Freiheit für Devisen

Ein (un)menschliches Kapitel

Politische Strafjustiz in der DDR

Offiziell gab es in der DDR gar keine „politische“ Strafverfolgung. Es gab ein Strafgesetzbuch, in dem paragraphenweise Straftatbestände genannt wurden. Einige davon waren jedoch ideologisch geprägt und richteten sich gegen staatsfeindliche Handlungen. Zu den „politischen Häftlingen“ des DDR-Regimes werden heute jene Menschen gezählt, die die politische Ausrichtung der DDR kritisierten oder bestimmte politisch-ideologisch motivierte Vorschriften verweigerten und daraufhin inhaftiert wurden.

© Hoferichter & Jacobs

Nach dem Ende der DDR definierte die Bundesrepublik 1992 ein „Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz“ und darin eine Reihe von politisch motivierten Paragraphen des DDR-Strafgesetzbuches. Wer in der DDR nach diesen Paragraphen verurteilt worden war, kann durch das Gesetz rehabilitiert werden. Zu politischen Häftlingen werden heute also Menschen gezählt, die nach folgenden Paragraphen des Strafgesetzbuches der DDR verurteilt wurden:

  • §§ 96 bis 100, 108, 225, 245, 246 – Hochverrat, Spionage, Landesverräterische Agententätigkeit oder Nachrichtenübermittlung, Geheimnisverrat
  • § 105 – Staatsfeindlicher Menschenhandel (gegen Menschen, die versucht haben, DDR-Bürger illegal in die BRD zu bringen)
  • § 106 – Staatsfeindliche Hetze (besonders in den 50er und 60er Jahren)
  • § 219 – Ungesetzliche Verbindungsaufnahme (zu staatsfeindlichen Organisationen)
  • § 213 – Ungesetzlicher Grenzübertritt (gegen Menschen, die versucht haben, die DDR illegal zu verlassen)
  • § 256 – Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung
  • Art. 6 II der DDR-Verfassung – Boykotthetze

© Hoferichter & Jacobs

Es standen aber noch mehr Straftatbestände im Strafgesetzbuch der DDR, die sich gegen den Staat richten konnten und Inhaftierte zu „politischen Häftlingen“ machten. Dies betraf zum Beispiel die Paragraphen 214 („Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“), 215 („Rowdytum“) und 249 („Asoziales Verhalten“). Damit konnte jegliches nonkonformes Verhalten als Verstoß gegen sozialistische Werte bestraft werden – viele Delikte von Jugendlichen wurden dadurch kriminalisiert.

© Hoferichter & Jacobs

Umfang der politischen Verfolgung

Wie auch andere Bereiche der DDR unterlag die Justiz politischen Schwankungen, insbesondere bei den politischen Strafprozessen. Diese gab es immer, besonders viele davon aber im Zusammenhang mit folgenden Ereignissen:

  • 1950-1952: mit der deutlichen Stalinisierung der SED, z.B. Waldheimer Prozesse (siehe auch: Zeitreise 2009, Kapitel 8: Stalinismus in der DDR)
  • rund um die Ereignisse des 17. Juni 1953
  • Ende der 50er Jahre im Zusammenhang mit dem Ungarn-Aufstand 1956, vor allem gegen SED-Funktionäre
  • Seit 1961 vor allem im Zusammenhang mit sogenannter „Republikflucht“
  • In den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der Oppositionsbewegung

Es gibt bis heute keine verlässlichen Zahlen über den genauen Umfang der politischen Strafjustiz in der DDR. Der Historiker Falco Werkentin rechnete für den Anfang der 50er Jahre mit 11.000 bis 14.000 einsitzenden Häftlingen wegen „Staatsverbrechen“. Das war immerhin ein Drittel aller Strafgefangenen der DDR. Bis 1960 sank die Zahl auf 5.000 bis 7.000 Häftlinge und soll sich bis 1989 in diesem Rahmen bewegt haben. Der ausgewiesene Experte für DDR-Recht Karl Wilhelm Fricke schätzte im Jahr 2000, dass es in40 Jahren DDR insgesamt 150.000 bis 200.000 Verurteilte gab, die meisten davon bis zum Bau der Berliner Mauer.

© Hoferichter & Jacobs

Der lange Weg zum Freikauf von politischen Gefangenen

1947 bemühten sich erstmals westdeutsche Kirchenvertreter um Hafterleichterungen oder Entlassungen ihrer DDR-Kollegen. Ein umfassenderes Bemühen auf staatlicher Ebene war wegen der Hallstein-Doktrin nicht möglich. Weil die BRD die DDR staatsrechtlich zunächst nicht anerkannte, konnten auch keine Verhandlungen über politische Gefangene eingeleitet werden. Es wurde jedoch die sogenannte „Rechtsschutzstelle“ in Berlin eingerichtet, die den DDR-Bürgern in politischen Strafverfahren Beistand zu leisten versuchte. Diese Anwaltskanzlei hatte Kontakte zu DDR-Anwälten und unterstütze die Verteidigung der Angeklagten. In Folge des Mauerbaus kam es zu einer ersten Freilassung von 20 Häftlingen und 20 Kindern gegen drei Waggonladungen Kalisalz für die DDR-Landwirtschaft. Dieses Geschäft handelten ebenfalls Kirchenvertreter aus. Doch die DDR-Führung merkte nun offenbar, dass aus den Gefangenen Kapital zu schlagen war.

1962 erhielten die westdeutschen Anwälte von ostdeutschen Mittelsmännern die Nachricht, dass die DDR bereit wäre, 1.000 Häftlinge gegen Devisen in die BRD zu entlassen. Die Rechtsschutzstelle sammelte seit Jahren Akten und konnte schnell eine Liste zusammenstellen, vor allem mit Langzeitinhaftierten. So ein Tauschhandel war aber in der Bundesregierung jahrelang als unmoralisch abgelehnt worden. Doch genau dorthin gelangte das DDR-Angebot auf inoffiziellen Kanälen. Bundeskanzler Adenauer billigte das „Geschäft“ hinter vorgehaltener Hand und die Berliner Anwälte durften schließlich verhandeln. Zwar schraubte die Ostseite die Zahlen immer wieder nach unten bis man sich 1963 auf acht Häftlinge für 340.000 DM einigte. Aber durch die verlässliche Umsetzung und das gewonnene Vertrauen auf beiden Seiten schienen nun auch weitere „Geschäfte“ möglich.

In der BRD übernahm das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche die Verhandlungen, da diese schon Erfahrungen mit DDR-Geschäften gemacht hatte. Die DDR-Seite begründete den Handel stets mit ökonomischen Argumenten: man habe hohe Ausbildungskosten beispielsweise für die Republikflüchtigen aufgewandt und diese nutzen ihr Können nun in der BRD. Dort wiederum müsse man froh sein über den Fachkräftezuwachs. In der Tat litt die DDR bis zuletzt unter der Abwanderung von Ärzten und Ingenieuren. Auch dieses Devisengeschäft übernahm später die Abteilung „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) von Alexander Schalck-Golodkowski – wie so viele andere auch (s. Kapitel zu Genex) . Konkrete Vereinbarungen zwischen der BRD und der DDR kamen nie zustande und auch der Handel selbst wurde bis zum Jahr 1989 von beiden Seiten geheim gehalten.

© Hoferichter & Jacobs

Umfang des Freikaufs von DDR-Häftlingen durch die BRD

Nachdem die DDR 1963 die ersten acht Häftlinge entlassen und in die BRD abgeschoben hatte, schien ein Bann gebrochen. 1964 waren es schon 888 Häftlinge. Anfangs zahlte die BRD pro Häftling etwa 40.000 DM, am Ende bis zu 100.000 DM. Bis 1989 gingen für insgesamt etwa 32.000 Personen etwa 3,4 Mrd. DM „über den Tisch“. Oftmals zahlte die BRD mit Waren des täglichen Bedarfs, die der DDR-Bevölkerung zu Gute kamen, wie Südfrüchte, aber auch Getreide, Erdöl, Industriediamanten und Kupfer. Das Auswahlverfahren der Freikäufe unterlag keinem erkennbaren Muster. Das bestätigt auch der frühere Staatssekretär im Bundesministerium für innerdeutsche Angelegenheiten Ludwig Rehlinger, der jahrelang die Freikäufe politischer Gefangener aus DDR-Haft auf westdeutscher Seite verhandelte. Die Westdeutsche Seite kannte viele Fälle sowie deren Hintergründe sehr genau und hatte die Qual der Wahl – schließlich ging es um menschliche Schicksale. Die DDR ließ niemals alle Gefangenen frei, sondern im Schnitt etwa ein Drittel der jährlich Inhaftierten. Wenn Angehörige von Betroffenen schon in der BRD waren, bemühten sie sich, diese auf die Freikauflisten zu setzen. Hinzu kamen Personen, an denen die BRD ein besonderes politisches Interesse hatte, wie zum Beispiel Fluchthelfer oder inhaftierte Spitzel.

Die Bundesrepublik kaufte insbesondere folgende Personengruppen frei:

  • Oppositionelle
  • Inhaftierte aufgrund von „Republikflucht“
  • Fluchthelfer aus BRD und DDR

Da das „Geschäft“ nicht offiziell war, wurden die Warenlieferungen in teils absurden Vereinbarungen festgehalten – ohne Vertragspartner und mit Unterschrift von Personen, von denen nicht klar war, für wen sie handelten. Nicht selten stellte das beauftragte Diakonische Werk Waren zur Verfügung, die von der DDR direkt auf dem internationalen Markt gegen Devisen verkauft wurden. Diese Praxis ist bis heute doppelt umstritten: zum einen kamen die Einnahmen aus dem „Häftlingsverkauf“ nicht der DDR-Bevölkerung direkt zugute sondern wurden dem Konto der „KoKo“ gutgeschrieben, aus dem sich die Staatsführung nach Gutdünken bediente. Kritiker bemerken zudem, dass die BRD die DDR mit den Einnahmen subventionierte, Druck von der DDR-Regierung nahm und die Praxis möglicherweise sogar dazu beitrug, seitens der DDR mehr Menschen mit höheren Haftstrafen zu versehen, um sie anschließend „anzubieten“. Fakt ist: Mit der Zeit wurden auf beiden Seiten Interessen bedient und die handelnden Personen kannten und vertrauten sich: die BRD wollte humanitär agieren, die DDR konnte ein inoffizielles „Problem“ gewinnbringend loswerden.

© Hoferichter & Jacobs

Interview

Zeitstrahl

1963 Beginn des Häftlingsverkaufes mit 8 Personen
1964 888 politische Häftlinge freigekauft
1963-1989 Insgesamt 31.775 Personen werden von der BRD aus DDR-Haft freigekauft. 3,4 Mrd. DM wendet die BRD dafür insgesamt auf. DDR-Vertreter sprechen von bis zu 8 Mrd. DM. Die Zahlen müssen also noch heute hinterfragt werden.
07.10.72 Anlässlich des 23. DDR-Geburtstages wurde umfassende Amnesie erlassen. Einzige Mal in der DDR-Geschichte, dass offiziell von „politischen Straftätern“ gesprochen wurde.
17.10.72 Das „Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsbürgerschaft“ tritt einen Tag vor dem Verkehrsvertrag in Kraft. All jene, die vor dem 1.1.1972 geflohen waren, wurden für straffrei erklärt. 131.000 Personen durften damit wieder in DDR einreisen oder Transitstrecken nutzen, ohne Gefahr einer Inhaftierung.
03.07.80 Der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Franke gibt bekannt, dass zwischen 1964 und 1980 20.000 politische Häftlinge der DDR durch „besondere Bemühungen der Bundesregierung“ vorzeitig entlassen wurden und in die BRD gehen konnten; 30.000 Bürger konnten im gleichen Zeitraum im Rahmen der Familienzusammenführung ausreisen. Bis 1989 gibt es jährlich bis zu 2.500 Freikäufe
21.06.82 Die „Verordnung zu Fragen der Staatsbürgerschaft“ ähnelt dem Gesetz von 1972. Nun waren 44.000 Menschen betroffen, die schon in der BRD lebten und vor dem 1.1.1981 geflohen waren.
1987 Abschaffung der Todesstrafe in der DDR, die letztmalig 1981 verkündet und vollzogen worden war.

Zusatzinformationen

Begriffe und Namen

Kommerzielle Koordinierung (KoKo)

Der Bereich Kommerzielle Koordinierung (auch unter der Kurzform KoKo bekannt) war eine 1966 im Ministerium für Außenhandel der DDR eingerichtete Abteilung, die vor allem der Beschaffung von Devisen diente. Die KoKo koordinierte sämtliche Devisengeschäfte mit der BRD (Transitpauschalen, Häftlingsfreikauf, Abfallentsorgung in der DDR, Post- und Fernmeldeverkehr u.v.m) und beschaffte zudem Technologien und Waren, die auf der „Embargoliste“ des Westens standen und damit für die DDR auf dem freien Markt nicht erhältlich waren. Auch die wirtschaftliche Abwicklung der Intershops (Geschäfte an Transitstrecken in der DDR, in denen ausschließlich mit DM bezahlt werden konnte), des Geschenkdienstes GENEX und ein weit verzweigter Kunst- und Antiquitätenhandel gehörten zum Aufgabenbereich der KoKo. Während ihres Bestehens konnte die KoKo etwa 30 Milliarden DM erwirtschaften und unterhielt etwa 170 Unternehmen mit ca. 3.100 Mitarbeitern in der DDR und im westlichen Ausland. Leiter der KoKo war Alexander Schalck-Golodkowski, der im Dezember 1989 in die BRD flüchtete und seit 1990 am Tegernsee wohnt.

Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen

Das Ministerium war offiziell für alle Fragen der deutschen Teilung und Kontakte mit der DDR zuständig. Das Auswärtige Amt hatte keine Zuständigkeit für die DDR. Die BRD vermied zudem bis 1972 alles, was eine Anerkennung der DDR bedeuten könnte. Erst mit dem Grundlagenvertrag zwischen DDR und BRD vom Dezember 1972 änderte sich dies.

Rechtsanwalt Wolfgang Vogel (1925-2008)

War ein Rechtsanwalt, der sowohl in der DDR wie auch in Berlin (West) eine Zulassung hatte und damit ein Wandler zwischen den Systemen wurde. Er war Katholik und bezeichnete sich selbst als „Marxisten“. Vogel trug maßgeblich zum Gelingen des Häftlingsfreikaufes ein und war alljährlich in die Verhandlungen dazu eingebunden. Er organisierte zudem Agentenaustausche.

Staatssekretär Ludwig Rehlinger (geb. 1927)

Arbeitete bereits seit 1957 im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen und war 1962/1963 auf Seiten der BRD maßgeblicher Initiator des Häftlingsfreikaufes. Er war dem Ministerium mit Unterbrechungen bis 1988 dienlich. 1991 schrieb er sein Wissen über den westdeutschen Part des Häftlingsfreikaufes nieder.

Dokumente

Information KoKo an Staatschef Honecker über den Deal

Information des Ministerrates der DDR an Intrac GmbH (DDR-Firma im Westen)

Vereinbarung zwischen Diakonischem Werk und KoKo

Zahlen

Freigekaufte DDR-Häftlinge
(zitiert nach Jenkis 2012, S.10-11; dieser zitiert nach Brinkschulte/Gerlach/Heise: Freikaufgewinnler, Berlin 1993 und Werkenthin: Recht und Justiz im DDR-Staat, Bonn 1998)

Jahr Haftentlassene Gesamtkosten für BRD (in DM)
1963 8 340.000,00
1964 888 35.320.000,00
1965 1.541 41.297.270,29
1966 424 52.599.461,70
1967 531 32.274.063,95
1968 696 15.301.668,71
1969 927 48.957.448,27
1970 888 52.866.855,73
1971 1.375 92.023.373,33
1972 731 70.013.393,73
1973 631 34.846.373,60
1974 1.053 109.043.361,78
1975 1.158 104.590.005,26
1976 1.439 131.098.785,00
1977 1.475 144.574.827,11
1978 1.452 168.753.033,63
1979 890 107.552.963,82
1980 1.036 133.776.616,36
1981 1.584 179.984.763,11
1982 1.491 179.274.196,71
1983 1.105 104.246.450,57
1984 2.236 390.095.143,11
1985 2.669 209.100.710,38
1986 1.450 249.430.170,48
1987 1.209 207.840.679,91
1988 1.048 234.161.985,58
1989 1.840 269.973.532,46
Insgesamt 31.775 3.399.337.134,64

 

Literatur

Apelt, Andreas H.: Flucht, Ausreise, Freikauf. Wege aus der DDR. Halle/Saale, 2011.

Jenkis, Helmut: Der Freikauf von DDR-Häftlingen: Der deutsch-deutsche Menschenhandel, Berlin 2012

Rehlinger, Ludwig: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten, Frankfurt/Main 1991

Werkentin, Falko: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995